Russlands Gas-Macht über Europa

Abb.: alexlmx / Adobe Stock

Russisches Erdgas ersetzbar?

Die Internationale Energieagentur (IEA) hat in einem Zehn-Punkte-Katalog Maßnahmen zusammengeführt und analysiert, die die EU innerhalb eines Jahres ergreifen könnte, um den Bezug russischen Erdgases zu reduzieren. [1] Das Ergebnis ist ernüchternd: Mit dem gesamten Katalog ließen sich zwar ein Drittel der bisherigen Importe aus Russland in Höhe von 155 Milliarden Kubikmetern einsparen. Der Bedarf an russischem Erdgas in der EU läge anschließend mit 100 Milliarden Kubikmetern aber immer noch so hoch wie der Jahresverbrauch Deutschlands.

Abb. 1: IEA – Potenziale zur Reduktion russischer Gasimporte

Lieferungen nichtrussische Produzenten

Die Einsparungen im IEA-Katalog resultieren aus drei Bereichen (vgl. Abb. 1). Erstens aus dem Gasaufkommen. Die EU könnte – zu hohen Preisen – von anderen Lieferanten innerhalb und außerhalb Europas zusätzlich 30 Milliarden Kubikmeter beziehen. Ein Drittel dieser Menge ginge auf erhöhte Pipelineflüsse zurück, u.a. aus Norwegen, zwei Drittel auf mehr verflüssigtes Erdgas (LNG), das Tankschiffe anlandeten. Da jedoch die derzeit außergewöhnlich leeren Gasspeicher den Sommer über aufgefüllt werden müssen, sind hierfür fast 20 Milliarden Kubikmeter gegenzurechnen, die verglichen mit 2021 zusätzlich benötigt werden. Netto verblieben gut 10 Milliarden Kubikmeter.

Umstellen der Stromproduktion

Größere Mengen an Erdgas ließen sich zweitens bei der Stromerzeugung einsparen. Auf 30 Milliarden Kubikmeter summierten sich hier bereits angestoßene und neue Maßnahmen, wozu neben der vermehrten Nutzung von Kohle weitere Maßnahmen beitrügen: Der ohnehin geplante Ausbau von Windkraft und Photovoltaik erfolgte noch einmal beschleunigt und durch gutes Wetter begünstigt, fossile Kraftwerke verfeuerten mehr Bioenergie und Kernkraftwerke steigerten ihre Produktion, insbesondere durch das Wiederanfahren von Blöcken, die sich 2021 in Wartung befanden.

Einsparungen beim Gasverbrauch

Ein reduzierter Gasverbrauch außerhalb der Stromproduktion könnte drittens nahezu 15 Milliarden Kubikmeter beisteuern. In allen Bereichen der Energieverwendung wäre dafür die Effizienz zu steigern, die Haushalte müssten zudem die Temperatur in ihren Wohnungen absenken und schneller auf Wärmepumpen umstellen.

Abstriche beim Klimaschutz

Weitere, im Zehn-Punkte-Katalog nicht berücksichtige Einsparungen in Höhe von knapp 30 Milliarden Kubikmetern wären zulasten des geplanten Klimaschutzes möglich. Einhergehend mit vermehrtem und anderweitig nicht kompensierbarem CO2-Ausstoß ließe sich der Kohleeinsatz in der Stromerzeugung noch weiter steigern und ein Teil der Gaskraftwerke auch mit flüssigen Ölprodukten befeuern.

Zusammen mit dem Zehn-Punkte-Katalog ließen sich dann gut 80 Milliarden Kubikmeter oder über die Hälfte der russischen Erdgasbezüge einsparen. Das bedeutet aber umgekehrt, dass die EU kurzfristig selbst mit großen Anstrengungen und mit Abstrichen beim Klimaschutz die andere Hälfte der russischen Importe nicht ersetzen kann, ohne tiefe Einschnitte in die wirtschaftliche Substanz zu riskieren.

Einstellen von Industrieproduktion

Um vollständig auf russisches Erdgas zu verzichten, wären die weiteren Einsparungen vornehmlich von der europäischen Industrie zu schultern. In der Größenordnung von 75 Milliarden Kubikmetern oder drei Vierteln des deutschen Verbrauchs müsste eine Reduktion bzw. Einstellung der Produktion vorgenommen werden. Putins Kalkül dürfte darauf setzen, dass Europa nicht bereit ist, diesen Preis zu zahlen – insbesondere bei unsicheren Erfolgsaussichten von Sanktionen. ♦︎

Autor: Sebastian Herold, Hochschule Darmstadt, Beitrag veröffentlicht am 03.03.2022.

[1] Vgl. IEA (2022): A 10-Point Plan to Reduce the European Union’s Reliance on Russian Natural Gas, 3 March 2022, https://iea.blob.core.windows.net/assets/1af70a5f-9059-47b4-a2dd-1b479918f3cb/A10-PointPlantoReducetheEuropeanUnionsRelianceonRussianNaturalGas.pdf (03.03.2022); IEA (2022): How Europe can cut natural gas imports from Russia significantly within a year, Press Release 3 March 2022, https://www.iea.org/news/how-europe-can-cut-natural-gas-imports-fromrussia-significantly-within-a-year (03.03.2022).