Gesprengte Träume
Wer genau hinschaut, kann das Kernkraftwerk Philippsburg noch immer von Weitem ausmachen. 100 Meter ragt der dünne Kamin der Anlage in die Höhe. Das ist beachtlich, aber kein Vergleich zu den zwei imposanten Kühltürmen, die früher mit einem Durchmesser von 124 Metern gen Himmel wuchsen und erst nach 150 Metern endeten, ebenbürtig zu den Deutsche-Bank-Towern in Frankfurt. Die mehrere zehntausend Tonnen Stahlbeton der Türme stürzten vor gut einem halben Jahr krachend in sich zusammen, als diese kontrolliert gesprengt wurden. Die Erzeugung von Strom aus Kernenergie am Standort Philippsburg ist damit endgültig besiegelt. Mittlerweile ist der Bauschutt der Türme verschwunden, auf den Flächen errichtet der Netzbetreiber TransnetBW das Gleichstrom-Umspannwerk für die neue Nord-Süd-Stromtrasse ULTRANET. Die Rückbauarbeiten am gesamten Kraftwerk haben damit gleichwohl erst begonnen und werden sich noch über Jahre hinziehen. [1]

Philippsburg ist bereits die zweite atomare Kraftwerksruine, an der ich auf meiner Tour vorbeikomme. Einen Tag zuvor führte mich der Radweg am Rhein direkt entlang des Kraftwerks Biblis. Dessen großes, schwarz verkleidetes Maschinenhaus trägt weiter stolz den Namen RWE in riesigen Lettern, zusammen mit einer stilisierten Darstellung eines überdimensionierten Atoms – ganz in der Unschuldsfarbe weiß gehalten, als sollten die Zeichen all das Böse von sich weisen, dass die Kritiker der Kernenergie anlasten. Die vier Kühltürme zeugen hier noch vom einstigen Anspruch, die ungeheure Kraft, die aus den Atomen freigesetzt werden kann, im großen Maßstab nutzbar zu machen.

Man kann die Kraftwerksruinen als Mahnmal sehen: Für die Hybris der Menschen mit Gewalten zu hantieren, die ihre Fähigkeiten übersteigen. Aber auch für zweifelhafte Weichenstellungen zeitgenössischer deutscher Energie- und Klimapolitik.
Als vor rund 100 Jahren die Potenziale in den Atomen entdeckt wurden, schien den Ambitionen der Menschheit keine Grenze mehr gesetzt zu sein. Mit Energie im Überfluss wäre alles machbar. „Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie […] aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln.“ [2]
Euphorie in der Politik und Skepsis in den Unternehmen

Es kam anders. Die neue Technik erforderte mehr Aufwand als angenommen, zudem stellte sie mit ihrer Strahlung und ihrer Einsatzmöglichkeit als Waffe eine ganz neue Dimension der Gefährdung menschlichen Lebens dar. Allerdings haben die Schrecken der Atombombenabwürfe in Japan die Nutzung der Kernenergie nicht unmittelbar diskreditiert. Die gerade zitierten Zeilen hat ein Denker der Linken rund zehn Jahre nach den Verwüstungen in Hiroshima und Nagasaki verfasst, der Philosoph Ernst Bloch, dem Vertreter der 68er Bewegung zugeneigt waren. Die andere Seite des politischen Spektrums zog bei der Kernenergie am gleichen Strang. Das 1955 neu geschaffene Amt des bundesdeutschen Atomministers bekleidete als Erster der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß. Der spätere bayerische Ministerpräsident sah mit der Kernspaltung eine neue Epoche heraufziehen und war „der Überzeugung […], dass die Ausnutzung der Atomenergie […] denselben Einschnitt in der Menschheitsgeschichte bedeutet wie die Erfindung des Feuers für die primitiven Menschen“ [3].
Über Jahrzehnte war die Euphorie für Kernenergie in weiten Teilen von Politik und Bevölkerung ungebrochen. In Deutschland entstanden nach und nach mehr als 30 Reaktoren, insbesondere in den 70iger und 80iger Jahren, darunter 1974 und 1976 die Blöcke A und B in Biblis und 1979 und 1984 die AKWs 1 und 2 in Philippsburg. [4] Diejenigen, die zumindest anfangs kein großes Interesse zeigten, waren die Energiekonzerne. Ihr Geschäftsmodell funktionierte auch ohne Kernenergie auf Basis von Kohle und zunehmend Erdgas. Zudem fürchteten sie die potenziell hohen Kosten der Kernenergie. [5] Womit sie nicht ganz Unrecht hatten. Bis heute ist umstritten, wie die Wirtschaftlichkeit der Kernenergie ausschaut, je nachdem welche staatlichen Fördergelder einbezogen werden und je nachdem ob in einem Land Lerneffekte genutzt und viele gleiche Reaktoren eines Typs gebaut wurden, wie in Frankreich, oder ob jeder Reaktor einen neuen, teuren Prototyp darstellte, wie in den meisten anderen westlichen Ländern. [6] Wenn allerdings die Technik einmal erforscht und die aufwendigen Anlagen gebaut sind, dann erzeugen Kernkraftwerke sehr günstig Strom, da die variablen Kosten, insbesondere die Kosten des Brennstoffs, deutlich niedriger liegen als bei Kohle- und Gaskraftwerken. [7]
Vorzeigbare Klimabilanz

Die deutschen Kernkraftwerke waren beziehungsweise sind vorhanden. Einer vorzeitigen Stilllegung bedurfte es, weil sie noch längere Zeit laufen könnten. [8] Und das so CO2-frei wie erneuerbare Energien. Für den Bau von Kernkraftwerken fällt natürlich CO2 in einem gewissen Umfang an, ebenso auch für die Produktion von Windrädern und Solarzellen, aber einmal vorhandene Kernkraftwerke erzeugen Strom ohne nennenswerte CO2-Emissionen. Jede zweite Kilowattstunde, die in den entwickelten Ländern in den vergangenen 50 Jahren ohne fossile Energien erzeugt wurde, stammt aus Atomkraft. Die CO2-Emissionen der Stromerzeugung in der Welt hätten nach Berechnungen der Internationalen Energie Agentur im letzten halben Jahrhundert ohne Kernenergie um 20 Prozent höher gelegen, in Europa sogar um 40%. [9]

Aber war Kernenergie nach dem Reaktorunglück im März 2011 im japanischen Fukushima noch zu verantworten? Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung von Kanzlerin Merkel hat die Einschätzung getroffen, dass die Kernenergie nach diesem Ereignis in Deutschland zumindest nicht mehr vermittelbar sei. Der Spiegel titelte mit einem Bild des explodierten Kraftwerks-Dachs über „Das Ende des Atomzeitalters“. In der Zeit hob Bestseller-Autor Florian Illies diese Aufnahme als „das zweite Bild des 21. Jahrhunderts“ auf eine Stufe mit den einstürzenden Türmen des World Trade Centers. Es werde das Ende des Atomzeitalters einläuten, „weil die Wirkmacht der Bilder im Kopf so stark ist, dass sie nicht mehr verdrängt werden können“ [10]. Am 14.03.2011 beschloss das Kabinett Merkel die Rücknahme der ein Jahr zuvor verabschiedeten Laufzeitverlängerung. Ältere Kraftwerke sollten sofort vom Netz. Vier Tage später fährt Biblis A als letztes dieser älteren Kraftwerke herunter. Es wird nie wieder in Betrieb gehen. Der Fahrplan zum endgültigen Kernenergieausstieg in Deutschland folgt im Juni und legt fest, dass bis 2022 das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet wird. [11]

Ausstieg nach Fukushima – ein deutscher Weg
Die Nachrichten und Bilder aus Fukushima gingen um die ganze Welt, die deutsche Prophezeiung vom Ende des Atomzeitalters stellte sich jedoch nicht ein. Japan hatte im Nachgang zum Reaktorunglück sämtliche Kernkraftwerke heruntergefahren. 2015 gingen die ersten beiden Reaktoren wieder ans Netz, bis 2018 folgten 7 weitere, nochmals 18 befinden sich im Genehmigungsverfahren. Kernenergie soll auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der Energieversorgung desjenigen Landes spielen, das wie kein zweites Land die Schattenseiten der Atomkraft erfahren hat. [12]
Ein Blick auf die Zahlen zu den Gesundheitsfolgen könnte eine Erklärung hierfür liefern. Das Erdbeben und nachfolgenden Tsunamis töteten rund 18.500 Menschen. Die Riesenwellen lösten auch das Reaktorunglück von Fukushima aus. [13] Es ist das bislang einzige Vorkommen, das in die gleiche Kategorie eingeordnet wurde wie Tschernobyl, Stufe 7 der Internationalen Atomenergieorganisation. Reaktorschnellabschaltungen unterbrachen zwar die nuklearen Kettenreaktionen in den drei zum Zeitpunkt des Erdbebens aktiven Blöcken im Fukushima Dai-ichi-Kraftwerk. Der Ausfall der Notstromaggregate in Folge der entscheidenden 14 Meter hohen Tsunamiwelle führte gleichwohl zu partiellen Kernschmelzen. Wasserstoffexplosionen zerstörten später Teile der Reaktorgebäude und stellten die Integrität der Reaktordruckbehälter in Frage, bei denen von Undichtigkeiten ausgegangen werden musste, die aber – anders als in Tschernobyl – weiter die Reaktorkerne umschlossen. Radioaktivität wurde über die Luft und das Wasser freigesetzt. [14]

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat mit zwei Jahren Abstand eine Einschätzung der gesundheitlichen Auswirkungen erarbeitet. Danach gab es keine unmittelbaren Toten oder Strahlenkrankheiten und keine Auswirkungen über die näheren Regionen des Reaktorstandorts hinaus. In den am nächsten gelegenen Regionen steige allerdings die Wahrscheinlichkeit im einstelligen Prozentbereich, an bestimmten Krebsarten zu erkranken. Eine Studie an der Stanford University mit einem sogenannten NLT-Modell, bei dem jede noch so kleine radioaktive Dosis als bedenklich berücksichtigt wird, führt zu einem Schätzwert von insgesamt 130 Todesfällen und rund 200 weiteren Krebserkrankungen. [15]
Jeder durch Technologie verursachte Todesfall ist tragisch. Jahr für Jahr erinnern uns in Deutschland mehr als 3.000 Menschen daran, die im Straßenverkehr sterben, wo die Todesursache unmittelbar ersichtlich ist. [16] Im Kontext der Energieversorgung führen kritische Studien zahlreiche Todesfälle auf die Luftbelastung durch Kohlekraftwerke zurück: In Europa jedes Jahr 22.900, davon 4.350 in Deutschland. [17]
Diese Zahlen sind aufgrund methodischer Unterschiede nur mit Vorsicht mit den dargestellten Zahlen für Fukushima vergleichbar oder mit den Toten durch Tschernobyl, die von der Weltgesundheitsorganisation auf weltweit insgesamt rund 4.000 beziffert werden und die eine von den Grünen im europäischen Parlament unterstützte Studie bei bis zu 60.000 sieht. [18] Dass Kernkraftwerke deutscher Nachbarländer in Grenznähe grundsätzlich eine größere Zumutung darstellten als umgekehrt die deutschen Kohlekraftwerke für die angrenzenden Länder, ist aber zu hinterfragen.
Eine Zusammenstellung, die die Todesfälle verschiedener Energieträger in Relation zur erzeugten Strommenge setzt, zeichnet sein sehr eindeutiges Bild: Je 1 Milliarde Kilowattstunden (TWh) verursacht Kohle danach 25 bis 33 Todesfälle und Öl 18. Biomasse mit 5 und Erdgas mit 3 sind immer noch beachtlich. In einer ganz anderen Größenordnung bewegen sich hingegen vier Energieträger am unteren Rand. Jeweils weniger als 0,1 Todesfälle gehen auf das Konto von Solarenergie, Wasserenergie, Windenergie – und Kernenergie. Tschernobyl und Fukushima sind die tragischen Ereignisse, die bei der Kernenergie neben der Urangewinnung besonders ins Gewicht fallen. In Relation zu der enormen Menge an Strom, die mittels Kernenergie bereits erzeugt wurde, liegt sie trotzdem in der gleichen Dimension wie die erneuerbaren Energien, bei denen Rohstoffgewinnung, Bau und Betrieb ebenfalls mit unintendierten Nebenfolgen verbunden sind. [19]

Kernkraft als blinder Fleck in der Klimaschutzbewegung
Der deutsche (Sonder)Weg des zeitnahen Atomausstiegs kann als Präferenz der Bevölkerung angesehen, die manifesten Gesundheitsrisiken aus Kohlekraft lieber zu ertragen als das Unbehagen heimatnaher Kernkraft. Er hat aber eine weitere Konsequenz: Da sich Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke nicht zeitnah beide gleichzeitig abschalten lassen, bedeutet die Priorität für den Kernenergieausstieg im Umkehrschluss, das Anliegen Klimaschutz zweitrangig zu behandeln. Stünde Klimaschutz an erster Stelle, würden erst die CO2-intensiven Kohlekraftwerke abgeschaltet. Die Kernkraft ist der blinde Fleck in Teilen der deutschen Klimaschutzbewegung.
Selbst Greta Thunberg wurde es verübelt, Naheliegendes auszusprechen. Kernenergie ist nicht die alleinige Lösung des Klimaproblems, aber Kernenergie wird neben dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien zusätzlich benötigt, wenn die Welt den Temperaturanstieg möglichst gering halten will, insbesondere wenn er auf näherungsweise 2°C begrenzt werden soll. Das Klimaschutzszenario der Internationalen Energieagentur schreibt Kernenergie eine solche Rolle zu und auch der Weltklimarat geht davon aus, dass erfolgreicher Klimaschutz nicht nur erneuerbare Energien erfordert, sondern auch Kernenergie sowie die Abscheidung und Einlagerung von Kohlendioxid. [20] Greta Thunberg hat es gewagt, auf diese Aussage des Weltklimarats ohne weitere Wertung hinzuweisen und sie sich damit zu eigen zu machen. Das hat insbesondere in Deutschland Wellen geschlagen. Nach umfassenden Social-Media-Protesten sah sich die junge Frontfrau der Fridays-for-Future-Generation genötigt, ihren Twitter-Beitrag anzupassen und nun zu betonen, sie persönlich sei gegen Kernenergie, aber nach Auffassung des Weltklimarats könne sie ein kleiner Teil der Lösung sein. [21]

Wenn sich in der Zusammenschau beider Versionen des Posts herausdestilliert, dass Kernenergie nicht sympathisch ist, aber zumindest übergangsweise als kleineres Übel akzeptiert werden sollte, dann scheint mir das eine vernünftige Meinung zu sein.
Für Deutschland ist das Thema politisch entschieden. Eine nochmalige Rolle rückwärts ist schwerlich vorstellbar. Trotzdem kann es lohnen, den Finger gelegentlich in diese Wunde zu legen, verstanden als Warnung, eingenommene Standpunkte zu befestigten Schützengräben auszubauen, aus denen man später nicht mehr herausfindet. Wenn in einigen Jahren schmerzlich realisiert werden sollte, dass die weitgehende Umstellung auf erneuerbare Energien für das nördlich gelegene Industrieland Deutschland mehr Zeit als geplant erfordert, dann könnten zur Erfüllung der Klimaziele – alternativ zur Kernenergie – beispielsweise das Abscheiden und die Einlagerung von CO2 erneut auf der politischen Agenda stehen.
Gegenüber dem Rest der Welt und unseren europäischen Partnern stünde uns derweil auch in Sachen Kernenergie etwas Bescheidenheit gut zu Gesichte. Frankreich setzt noch länger auf Atomkraft und auch England denkt gerade darüber nach, zusätzlich zur im Bau befindlichen Anlage Hinkley C ein weiteres Kernkraftwerk zu errichten, Sizewell C. [22] Als Elder Statesman hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal ausgeführt: „Ich finde es erstaunlich, dass unter allen großen Industriestaaten der Welt […] die Deutschen die Einzigen sind, die glauben, sie könnten ohne Kernkraft auskommen. […] Tschernobyl hat nicht dazu geführt, dass die Russen oder die Ukrainer Kernkraftwerke völlig aufgegeben hätten. Wir sind die Einzigen, die diese Konsequenz gezogen haben. Wir wollen klüger sein als die ganze Welt. Sind wir aber nicht.“ [23] ♦
Autor: Sebastian Herold, Hochschule Darmstadt, Beitrag veröffentlicht am 02.12.2020 als Teil 3 von 4 der Energie-Tour 2020.
—