Groß-Chemie mitten in der Stadt
Das größte zusammenhängende Chemieareal der Welt ist gut mit dem Fahrrad zu erreichen. Es liegt schließlich auch mitten in der Stadt. Radwege führen die Brunckstraße entlang, die mitsamt ihren Fortsetzungen über 10 Kilometer die Grenze zwischen dem Werksgelände und dem übrigen Ludwigshafen markiert. 39.000 Mitarbeiter, 2.000 Gebäude und 200 Produktionsanlagen – das BASF-Hauptwerk weist die Dimensionen einer eigenen Kleinstadt auf. Mit dem Energieverbrauch einer Metropole. Der Strombedarf entspricht dem Bezug von 4 Millionen Einpersonenhaushalten. Insgesamt 6 Milliarden Kilowattstunden (TWh) Strom verbraucht die BASF pro Jahr in Ludwigshafen. Das ist so viel wie alle Photovoltaikanlagen im Flächenland Baden-Württemberg zusammen in einem Jahr produzieren. Oder 3 mittelgroße Gaskraftwerke auf dem Werksgelände. Ein vollständiges Umstellen auf erneuerbare Energien innerhalb weniger Jahre wäre bei solchen Dimensionen schon technisch sehr ambitioniert. Noch größere Fragezeichen ergeben sich mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit auf den umkämpften internationalen Märkten der chemischen Industrie. Die Klimaziele des Konzerns fallen entsprechend bescheidener aus: Bis 2030 möchte die BASF bei steigender Produktion ihren CO2-Ausstoß konstant halten, anschließend senken. [1]

Der effizientere Einsatz von Energie kann dazu beitragen. Effizienz war immer schon das Organisationsprinzip am Standort Ludwigshafen, der auch ein Synonym für das hier entwickelte Verbundkonzept ist, bei dem die Nebenprodukte einer Anlage als Eingangsstoffe für die Produktion einer anderen Anlage dienen und so von den kostbaren Rohstoffen möglichst nichts unverwertet bleibt. Zentraler Ausgangspunkt sind die beiden Steamcracker, die sich majestätisch auf dem Gelände erheben und rund um die Uhr Rohbenzin in seine Bestandteile wie Ethylen und Propylen zerlegen, die in viele nachfolgende Prozesse einfließen. [2]

Tausende verschiedene Produkte stellt die BASF vor den Toren Mannheims her, mit denen unsere Alltagsgegenstände in bunten Farben leuchten, Tabletten sich in Wasser lösen, Klebstoffe halten oder Zahnbürsten und Damenstrümpfe entstehen. [3] Das firmeneigene Besucherzentrum bietet hierzu über mehrere Etagen interessante Einblicke, die von einer Rundfahrt über das Betriebsgelände noch übertroffen werden. Die Anlagen auf dem Areal verstecken sich nicht in grauen Hallen, sondern sind zu großen Teilen offen zugänglich. Aus dem Bus heraus blicken die Besucher direkt auf das manchmal verwirrende Geflecht von Rohren und verfolgen die Produkte gewissermaßen bei ihrer Entstehung. Zumindest ist das zu normalen Nicht-Covid-Zeiten so, zu denen ich 2019 schon einmal hier war und diese Möglichkeiten nutzen konnte.

Nahrung, Chemie und Energie
Besonders ein Produkt, dessen Herstellung hier entwickelt wurde, hat die Welt verändert. Vor gut 100 Jahren war es nicht eine drohende Klima- sondern eine bevorstehende Hungerkatastrophe, die zahlreiche Wissenschaftler mit tiefer Sorge erfüllt hat. Die Bevölkerung in Europa hatte sich seit Beginn der industriellen Revolution verdoppelt, Tendenz weiter steigend. Die Landwirtschaft konnte mit dieser Entwicklung nicht mithalten. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Darmstädter Justus von Liebig im sogenannten Minimumgesetz dargelegt, dass die knappste relevante Ressource das Wachstum von Pflanzen begrenzt. Der alles entscheidende Engpass war damals der Pflanzennährstoff Stickstoff, der die gewünschte Ausdehnung der Erträge beschränkte. Traditionell versorgte Mist die Felder mit Stickstoff, was sich aber nicht weiter steigern ließ. Die Bauern fuhren deshalb seit einiger Zeit zusätzlich stickstoffhaltigen Salpeter auf die Felder, der in südamerikanischen Bergwerken gewonnen wurde, dessen Vorkommen aber langsam zur Neige gingen. Nicht, dass Stickstoff ein besonders seltenes Element wäre. 78% der Luft bestehen aus Stickstoff. Nur können Pflanzen diesen Luftstickstoff nicht direkt verarbeiten, der Stickstoff muss ihnen über andere Verbindungen zugeführt werden. [4]
Im Juli 1909 gelang dem Chemiker Fritz Haber in seinem Karlsruher Labor der entscheidende Durchbruch, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen. 100 Milliliter Ammoniak, synthetisch gewonnen aus Luftstickstoff und Wasserstoff, sammelten sich in seinem Versuchsapparat. Wenn es gelingen sollte, diesen Prozess auf die großtechnische Produktion zu übertragen, ließe sich ausreichend Kunstdünger zu wirtschaftlichen Bedingungen produzieren, um die Welt zu ernähren. Das war keine triviale Aufgaben, da das Verfahren eine Kombination von hohen Temperaturen und Drücken erforderte, die bislang als nicht beherrschbar galten. Nach vielen Versuchen und Innovationen meisterte diese Herausforderung das BASF-Team um Carl Bosch, dem späteren Vorstandsvorsitzenden des Konzerns. In Oppau errichtete BASF anschließend die erste großtechnische Fabrik zur synthetischen Produktion von gebundenem Stickstoff. Neben Forschergeist und großer Ingenieurskunst fußt die Welternährung seitdem vor allen Dingen auf: Viel Energie. [5]

Wie viel Energie in Kunstdüngern steckt, erfuhr die gesamte Region am 21. September 1921 auf tragische Weise. Um 07:30 Uhr dieses Tages explodierte ein Düngemittelsilo im BASF-Werk mit einer Wucht, die noch im 30 Kilometer entfernten Heidelberg Gebäude beschädigte und selbst dreihundert Kilometer weiter in München zu hören war. Eine der schlimmsten Katastrophen der Industriegeschichte tötete 561 Menschen, verletzte nahezu 2.000 weitere und hinterließ einen 100 Meter breiten und 20 Meter tiefen Krater. Die Explosion ereignete sich auf dem heutigen Nordteil des Unternehmensgeländes, das damals als eigenständiges Werk Oppau firmierte und später mit dem Werk Ludwigshafen zusammenwuchs. Auf dem mittlerweile zum Stadtgebiet Ludwigshafen gehörenden Oppauer Friedhof erinnert in Sichtweite zur BASF ein Gedenkstein an die Katastrophe von 1921. [6]
Von Kohle zu Erdgas
Die Energie für den Stickstoff-Kunstdünger gewann BASF anfangs aus Kohle. Heute ist weltweit Erdgas der Energieträger der Wahl, aus dem auch der benötigte Wasserstoff hergestellt wird. Methan, der Hauptbestandteil von Erdgas, enthält je Kohlenstoffatom vier Wasserstoffatome. Im Werk Ludwigshafen ist die Ammoniakproduktion – nach den eigenen Kraftwerken – der zweitgrößte Erdgasverbraucher. Aus dem Ammoniak entstehen hier Leime und Harze. Führend in der Herstellung von Stickstoff-Kunstdüngern sind mittlerweile China, Indien, Russland und die USA. Sie alle setzen dabei weiterhin auf das Verfahren, das vor mehr als 100 Jahren in Ludwigshafen seinen Ausgangspunkt nahm. Die weltweit hierfür benötigte Energie entspricht in etwa dem Energieverbrauch Frankreichs. [7]

Dabei handelt es sich um außergewöhnlich gut investierte Energie. Wenn Sie eine Münze werfen und diese Kopf zeigt, verdanken Sie Ihr Leben statistisch dem Erfindergeist des Chemikers Haber und des Technikers Bosch. Denn fast die Hälfte der heutigen Menschen können nur leben beziehungsweise konnten überhaupt nur geboren werden, weil das Haber-Bosch-Verfahren Ammoniak als Basis für die Düngung der Felder bereitstellt. Der Münzwurf ist natürlich nur eine Veranschaulichung. Und auch die Zahl, wie viele Menschen ihr Leben künstlichem Stickstoff verdanken, ist nur näherungsweise zu ermitteln. [8]
Das gilt analog auch für die Herstellung des Antibiotikums Penicillin durch Howard Florey, die Entwicklung der Schutzimpfung gegen Pocken durch Edward Jenner oder die Identifizierung verschiedener Blutgruppen und die Ermöglichung von Bluttransfusionen durch Karl Landsteiner. Alle diese Personen haben einen Platz auf der Liste der zehn Wissenschaftler, deren Erkenntnisse wohl die meisten Menschenleben gerettet haben. Diese Liste führt mit großem Abstand Fritz Haber an, dessen Ammoniak-Synthese mehr Menschen ihr Leben verdanken als allen neun auf der Liste nachfolgenden Wissenschaftlern zusammen. [9] Haber und Bosch haben für ihre Leistungen beide den Nobelpreis erhalten. Insbesondere der Blick auf Haber verdeutlicht, dass auch in der Wissenschaft nicht alles schwarz oder weiß ist. Sein Werk bleibt durch sein Engagement in der Herstellung von Giftgas als Massenvernichtungsmittel überschattet und lässt seine Biografin von einem ‚guten‘ und einem ‚bösen‘ Haber schreiben. [10]
Von Erdgas zu Erneuerbaren?
Dass Erdgas auch zukünftig die tragende Rolle zukommt, um Brot aus der Luft zu gewinnen, ist nicht zwingend. Verfahrenstechnisch ist es möglich, den für das Haber-Bosch-Verfahren benötigten Wasserstoff mit erneuerbaren Energien aus der Elektrolyse von Wasser zu erzeugen. Die Verfügbarkeit von ausreichend viel erneuerbarer Energie vorausgesetzt. [11]

Um Energie von Anfang an CO2-frei zu gewinnen, gibt es zwei Möglichkeiten: Die Kraft von Sonne, Wind, Wasser und Erdwärme zu nutzen oder die Energie in den Atomen freizusetzen. Wenn man Klimaschutz ernst nimmt, wird man nur dann längerfristig um die Kernenergie herumkommen, wenn es gelingt ausreichend erneuerbare Energie bereitzustellen, damit 8 und mehr Milliarden Menschen gut auf der Welt leben können. Das ist die nobelpreiswürdige Aufgabe, vor der heutige Wissenschaftler, Ingenieurinnen und Unternehmer stehen. Eine verbesserte Energieeffizienz oder ein verminderter Fleischkonsum könnten helfen, diese Aufgabe etwas einfacher zu gestalten. Einen Weg zurück gibt es in jedem Falle nicht – nicht in die Höhlen der Steinzeit, als zum Ende der jüngsten Eiszeit auf der ganzen Welt mit 1 Million Menschen so viele lebten wie heute in Köln, nicht in die Subsistenzwirtschaft des Mittelalters mit 250 Mio. Menschen und nicht in die Zeit der Industrialisierung mit ihren qualmenden Kohle-Schornsteinen, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Weltbevölkerung 1 Milliarde Menschen erreichte. Eine Welt mit 8 Milliarden Menschen ist eine, in der der Mensch zwangsläufig mehr in die Natur eingreift als in früheren Epochen, in der er deshalb auch umso mehr darauf achten muss, die unverzichtbaren natürlichen Grundlagen nicht zu gefährden. [12]
In Ludwigshafen ist diesbezüglich in über 150 Jahren BASF viel geschehen. Vorbei sind die Zeiten, als Abwässer der Chemieproduktion den Rhein kilometerlang rot färbten und selbst arsenhaltige Flüssigkeiten regelmäßig in den Fluss eingeleitet wurden. Ein über Jahrzehnte gewachsenes Umweltbewusstsein in Öffentlichkeit und Politik veranlasste auch die Industrie dazu, dem Thema Umwelt einen größeren Stellenwert einzuräumen. Einen Meilenstein stellte die 1974 in Betrieb genommene Kläranlage der BASF dar, die zudem die Abwässer der Städte Ludwigshafen und Frankenthal aufbereitet. Aufwendige Luftfilter sorgen dafür, dass auch die Abgase aus den Schornsteinen weit von den Umweltbelastungen entfernt sind, über die sich Anlieger in den frühen Jahrzehnten des Werks beschwerten. [13]
In der Volkswirtschaftslehre sprechen wir von Umwelt als superiorem Gut, das mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft einen höheren Stellenwert erhält. Etwas Wohlstand belastet die Umwelt erst einmal, viel Wohlstand rückt ihren Schutz dann stärker ins Bewusstsein und verfügt über die Mittel, diesen Schutz zu finanzieren. Von daher kann es auch für die Umwelt ein gutes Zeichen sein, wenn das BASF-Werk Ludwigshafen an diesem Wochenende hell erleuchtet ist und die Produktion läuft. ♦
Autor: Sebastian Herold, Hochschule Darmstadt, Beitrag veröffentlicht am 01.12.2020 als Teil 2 von 4 der Energie-Tour 2020.
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